Viel Lärm um ein paar Zeichnungen zum Thema ‚Mohammed‘ und ein Kreuzzug für die Meinungsfreiheit

Wir empfehlen aus aktuellen Anlass den Artikel "Viel Lärm um ein paar Zeichnungen zum Thema ‚Mohammed‘ und ein Kreuzzug für die Meinungsfreiheit" aus dem GegenStandpunkt 01/06:

Eine Riesenaufregung und Randale mit Toten in der islamischen Welt – bloß wegen ein paar Karikaturen in einem dänischen Journal? Und umgekehrt: Mit der Lizenz, ein paar Zeichnungen zu drucken, stehen gleich die Grundprinzipien der Aufklärung, der demokratischen Weltordnung und der europäischen Völkersolidarität auf dem Spiel? Das kann ja wohl beides nicht ganz wahr sein.

1.

Die umstrittenen Karikaturen in der dänischen Zeitung enthalten – wie das bei politischen Karikaturen so üblich ist – eine leicht fassliche politische Botschaft. Die ‚Süddeutsche‘ fasst zusammen:

„Die Botschaft war klar: Der islamistische Terror ist nicht die Tat radikaler Abweichler. Die Terror-Ideologie – das ist die Religion selbst. So wird der Religionsstifter Mohammed zum Oberterroristen.“ (SZ, 11.2.06)

Selbst diese Botschaft, irgendwo in ein Bildchen gefasst, wäre auch unter Muslimen kaum ein Achselzucken wert, brächte sie nicht in kaum übertriebener Weise den politischen Standpunkt zum Ausdruck, den keineswegs bloß ein paar skandinavische Exzentriker, sondern die weltpolitisch maßgeblichen Nationen im Verhältnis zur arabisch-islamischen Staatenwelt sowie im Umgang mit ihren aus diesen Ländern zugewanderten Minderheiten einnehmen.

– Was die Region zwischen Marokko und den Philippinen im Allgemeinen, den „nahöstlichen Krisenbogen“ im Besonderen und ganz speziell die von den USA dort identifizierten „Schurkenstaaten“ Iran und Syrien sowie, speziell nach ihrem Missgriff bei ihrer freien Parlamentswahl, die Palästinenser betrifft, so haben die transatlantischen Verbündeten sich bekanntlich dazu entschlossen, genau hier und an diesen Nationen eine „neue Weltordnung“ durchzusetzen und die bis auf Weiteres gültige strategische „Weltlage“ zu inszenieren. Alles, was man sonst noch mit diesen Ländern anstellt und von ihnen will, wird – abgestuft natürlich und fein differenziert – der erklärten Notwendigkeit untergeordnet, einen Haufen frommer Desperados „auszuräuchern“, die auf religiöse Autorität gegründete anti-westliche Herrschaft im Iran zu entmachten, von dort sowie aus Syrien – angeblich oder wirklich – unterstützte, mit bestem religiösem Gewissen operierende Terroristen und Widerstandsgruppen niederzumachen und im Sinne einer konstruktiven präventiven Sicherheitspolitik den Völkern an Stelle ihres überkommenen Vertrauens in religiöse und religiös legitimierte Autoritäten eine neue politische Kultur, nämlich die Sitten der modernen kapitalistischen Erwerbsgesellschaft und eines pflegeleichten demokratischen Wählervolks beizubringen. Regierungen und Regierte werden unter einen in Washington definierten, von Europas ehrgeizigen Imperialisten mitformulierten Korrekturbedarf subsumiert, der nicht nur die weltpolitische Ausrichtung, sondern auch die vom Islam inspirierte oder zumindest durch ihn legitimierte innere Verfassung der Nationen betrifft und erpresserisch, notfalls auch gewaltsam durchgesetzt wird. Die im missionarischen Ethos dieser ausgreifenden Sicherheitspolitik enthaltene Ächtung einer vom demokratisch-marktwirtschaflichen Rechts- und Verhaltenskodex abweichenden Sittlichkeit, darin eingeschlossen die massenhaft praktizierte Frömmigkeit, wird durch einige der dänischen Karikaturen illustriert: Das macht aus den Zeichnungen mehr als einen Scherz über die religiöse Borniertheit, die auch fromme Menschen an ihresgleichen – vor allem solchen von der jeweils anderen Observanz – und erst recht bürgerliche Freigeister an den Schafen eines göttlichen Hirten so leicht „entlarven“ und so gerne lächerlich machen.

– Der Verdacht auf eine über islamische Sitten und Glaubensartikel vermittelte Sympathie mit ‚islamistischen‘ Terroristen trifft auch die Menschen, die aus den „Problemstaaten“ zwischen Maghreb und Südsee in die europäischen Metropolen des Welt-Kapitalismus abgewandert sind und dort als mehr oder weniger ausgegrenzte, noch nicht bis zur völligen Unkenntlichkeit angepasste Minderheiten ihren Beitrag zur Vielfalt der Lebensstile in einer offenen Gesellschaft leisten. Von Staats wegen zeitweise als Arbeitskräfte ins Land gebeten, dann immerhin zugelassen, inzwischen längst unerwünscht und mit den Mitteln des Ausländerrechts schikaniert, werden sie seit den Attentaten des „9/11“ und der Entdeckung von Helfershelfern im Milieu der islamischen Gemeinde in Europa ziemlich pauschal als Bestandteil des „Sumpfes“ des anti-westlichen Terrorismus beargwöhnt, überwacht und unter dem Titel „Integration“ zu dem schwer zu erbringenden Nachweis verpflichtet, mit Gefühl und Verstand ganz und gar in ihrer neuen Heimat „angekommen“ und für deren Welterfolg genauso bedingungslos parteilich zu sein, wie die Staatsgewalt es bei ihren Eingeborenen von Haus aus unterstellt; inquisitorische Fragebögen für Einbürgerungswillige machen die Linie deutlich und führen doch nur zu dem Befund, dass es mit ihrer korrekten Beantwortung noch gar nicht getan ist, ein waches Misstrauen gegen die gesamte Bevölkerungsgruppe also unabdingbar bleibt, auch wenn man ihnen ein dauerhaftes Recht auf Zugehörigkeit gewährt hat. An solchem Misstrauen lässt die Mehrheit der bodenständigen Bevölkerung es ohnehin nicht fehlen. Rechtsradikale Parteien, die die Ausgrenzung und Entfernung aller „Elemente“, welche sich durch abweichende religiöse Sitten oder auch nur durch ihre Herkunft verdächtig machen, zur ersten und wichtigsten Staatsaufgabe erklären, wichtiger als alles, was ein bürgerliches Gemeinwesen seinen Insassen sonst noch an Betreuung schulden mag, finden Anklang; nicht zuletzt auch in Dänemark, wo ein solcher Verein es zur parlamentarischen Stütze für eine regierende Mehrheitspartei mit nicht so verengtem Programm gebracht hat. Diesen volkstümlichen Ausländerhass mit anti-muslimischem Schwerpunkt hat die dänische Zeitung mit ihrem Karikaturen-Wettbewerb nicht bloß bedient; angeblich hat sie mit einer gezielten Provokation des verdächtigen orientalischen Kirchenvolks dessen Bereitschaft zu moralischer Selbstverleugnung testen und so ihren Beitrag zu der Alternative „ganz ’rein oder ’raus“ leisten wollen. Auch insofern gehen die dargebotenen Scherze über den ortsüblichen Humor der Heimat Kierkegaards hinaus.

2.

Für sich genommen sind die Karikaturen trotz allem nicht mehr als Strichzeichnungen mit recht beschränkter Botschaft – manche Zeichner haben sogar umgekehrt ihren rechten Auftraggeber aufs Korn genommen und in ihrer Karikatur schlecht aussehen lassen – und von sehr begrenzter Reichweite und nie und nimmer der Grund für empörte Reaktionen bis hin zu Morddrohungen und Brandstiftung und für wochenlange wütende Demonstrationen in etlichen islamischen Ländern. Sie sind wirklich nicht mehr als ein Anlass. Der Grund des moralischen Aufruhrs liegt in dem Feindbild vom gottlosen, dekadenten, dabei materiell überlegenen und deswegen so unerschütterlich arroganten „Westen“, mit dem nicht wenige fromme Volkserzieher dieses Teils der „3. Welt“ ihren Schäflein und diese dann auch sich selbst einen großen Teil der schlechten Erfahrungen erklären, die sie unter und mit den desolaten Lebensbedingungen in ihren in sämtliche Weltmärkte eingeordneten und von fremden Interessen dominierten Heimatländern machen. Wie ihnen da mitgespielt wird: wie ihnen der Reichtum der kapitalistisch erfolgreichen Nationen gleichzeitig als Maßstab vor Augen geführt und vorenthalten wird; dass sie mit ihren Interessen an ihrer mehr oder weniger pro-westlichen Herrschaft scheitern oder – nach Aussage ihrer eher anti-westlichen Herrschaft – gemeinsam mit der an Machenschaften des imperialistischen Auslands; wie ihnen, insbesondere den Jugendlichen, der Status einer „relativen“, nämlich kapitalistisch nutzlosen Übervölkerung des Erdballs aufgezwungen wird: Das „begreifen“ die Betroffenen wie ihre weniger betroffenen Meinungsbildner als Verstoß gegen die Ehre, die sie in ihrer Eigenschaft als Angehörige einer großartigen, vom Allerhöchsten als sein Fußvolk auserwählten Gemeinschaft im Leibe haben – so genießen sie wenigstens die trostreiche Einbildung, in einem höheren Sinn die beleidigten Subjekte von Verhältnissen zu sein, in denen sie noch nicht einmal die Rolle nützlicher Objekte der „globalisierten Marktwirtschaft“ spielen. Und etliche dieser Völker haben nicht bloß eine solche ideelle Auseinandersetzung mit dem Imperialismus der großen kapitalistischen Demokratien hinter sich, sondern können auf eine ganze Reihe von nationalen Emanzipationsversuchen zurückblicken, die teils durch Erpressung von außen, teils durch ihre eigenen pro-westlichen Machthaber unterdrückt oder in eine reichlich frustrierende Richtung gelenkt worden sind; der politische Wille zu weltpolitisch respektabler und auch vom „Westen“ als ebenbürtig respektierter arabischer oder sogar über Arabien hinausgreifender gesamt-islamischer Macht ist erfolgreich ins Reich der frommen Einbildung und, soweit noch aktiv, in den terroristischen Untergrund abgedrängt worden. Mittlerweile sind die muslimischen Gemeinwesen Objekte einer von ihnen wirklich nicht bestellten ‚Befreiung‘ durch die Weltmächte der bürgerlichen Freiheit und Adressaten einer Weltordnungspolitik, die Afghanistan alles andere als befriedet und Pakistan gleich mit aufmischt, den Irak ruiniert, Israel in seinem anti-terroristischen Quasi-Krieg gegen die Palästinenser freie Hand lässt, dem iranischen „Gottesstaat“ Entmachtung und Systemwechsel ansagt … : eine Menge Gründe für eine Feindschaft, der die zuständigen Regierungen – mit Ausnahme der iranischen und ansatzweise der syrischen – allerdings keinen Raum geben. Dass Leute mit einem empfindlichen Stolz das konfrontative Vorgehen des „Westens“, nicht zuletzt auch gegen ihre überkommene fromme Lebens- und Denkungsart, als „Kreuzzug“ gegen ihr Allerheiligstes auffassen, ist zwar daneben, unterscheidet sie aber nicht besonders von der Moral der imperialistischen Nationen, die ihnen unbedingt ihre terroristischen Neigungen abgewöhnen und die Freiheit bringen wollen. Was sie von denen jedenfalls viel gründlicher unterscheidet, ist ihre Machtlosigkeit, die offenbar wird, wenn sie die Beleidigung ihres Propheten in westlichen Gazetten zum Anlass für einen gerechten Gegenschlag nehmen: Ihre Feindschaft toben sie in ohnmächtiger Wut an Sinnbildern des verhassten „Westens“ aus. Die Völker des „Westens“ dagegen können sich, was die notwendige Gewalt zur Förderung der imperialistischen Bedürfnisse ihrer Nationen betrifft, getrost auf die Erpressungsmacht und die Gewaltapparate ihrer Herrschaften verlassen. Und für die nötige moralische Erregung über falsche Regierungen und verkehrt gepolte Volksmassen haben sie die Profis von der „4. Gewalt“.

3.

Die verstehen ihr Geschäft mindestens so gut wie die militanten Volkserzieher in den islamischen Ländern das Ihre; und sie versehen es in dem offensiven Geist, den sie im Zeichen der großen demokratischen Reformkampagne des „Westens“ für den islamischen „Krisenbogen“ und aus Anlass der der melodramatischen Proteste in etlichen Städten dieser Region gegen die dänischen Mohammed-Verächter für angezeigt halten. Jeder von Pressevertretern bis zu den höchsten Staatsspitzen sieht sich herausgefordert, die Meinungs- und Pressefreiheit angegriffen zu sehen, sie zum Höchstwert zu erklären, den es um der Freiheit des aufgeklärten Abendlandes willen gegen einen mordlüsternen orientalischen Mob mannhaft zu verteidigen gelte, und zum Schulterschluss wider die Feinde der Freiheit aufzurufen. Zeitungen in halb Europa drucken die inkriminierten Karikaturen nach; erklärtermaßen nicht, weil sie deren Botschaft so großartig finden und gerne verbreiten wollen, sondern allein zwecks demonstrativer Verteidigung ihres Rechts, frei und ungehindert darüber zu entscheiden, welcher Meinung sie wie viel Platz einräumen; Journale, die das nicht tun, werden verdächtigt und verteidigen sich, teilweise vorauseilend, gegen den Vorwurf, sie verweigerten aus Furcht die Solidarität mit den dänischen Kollegen, hätten die Schere einer anti-antimuslimischen Zensur bereits im Kopf und damit schon Verrat am Grundrecht der Meinungsfreiheit geübt; die Bekenntnisse, dass „bei uns“, in der abendländischen Werteordnung, die Freiheit der Presse ungefähr an den Platz gehört, auf dem die islamischen Fanatiker ihren Propheten sehen wollen, sind gar nicht mehr zu zählen. Die Kampagne gewinnt dadurch noch an Fahrt, dass orientalische Einzelhändler und sogar die politischen Hüter der Heiligen Stätten des Islam zum Boykott dänischer Milchprodukte aufrufen: Dagegen muss Brüssel mit aller Härte einschreiten, eine gesamteuropäische Abwehrfront herstellen, lieber heldenhaft auf Exporterlöse als auf unser aller Meinungsfreiheit verzichten und sofort die WTO wegen Vertragsverletzung mobilisieren.

Dieser begeisternde Einsatz für „unsere Werte“ beschränkt sich keineswegs auf den heimischen Werte-Standort. Mit ihren wütenden Protesten entlarven sich vielmehr die aufgeputschten Völkerschaften der islamischen Welt resp. deren Agitatoren vor den Augen des investigativen abendländischen Journalismus als genau die unverständigen Feinde der Freiheit, als die der zum Demokratie-Export angetretene „Westen“ sie schon längst verdächtigt. Diese ganze Kultusgemeinde hat es offensichtlich noch nicht zu dem großen zivilisatorischen Fortschritt gebracht, ohne den heutzutage endgültig nirgends mehr Staat gemacht werden darf; sie disqualifiziert sich als Gegner von Werten, die die freie Welt schon längst für global und allgemein verbindlich erklärt hat; sie widersetzt sich dem freiheitlichen Konsens der modernen Völkerfamilie – und bestätigt damit genau den Korrekturbedarf, den die USA schon des längeren angemeldet haben und dem sie mit ihrer Demokratisierungs-Initiative kompromisslos und mit vorbildlicher Tatkraft nachkommen: Den Jüngern Mohammeds gehört die Meinungsfreiheit beigebracht.

Dieser fulminante Einsatz für den Universalismus der abendländischen Werteordnung hat eine lächerliche Seite. An der Ermessensfreiheit von Chefredakteuren, Karikaturen eines Religionsstifters abzudrucken, soll unser aller Freiheit und Lebenskultur hängen? Die ungehinderte Freiheit, fünf Sekunden lang über den Abgott fremder Gläubiger zu grinsen, soll der Wert sein, der unsere aufgeklärte Neuzeit vom finsteren Mittelalter trennt? Das wäre sie: die Vernunft? Inmitten einer Welt, deren alltäglicher Gang von privaten Investitionsentscheidungen bestimmt und deren Ordnung durch die strategischen Entscheidungen von Befehlshabern über Atomwaffen definiert wird, soll alles darauf ankommen, dass Pressezeichner ihre Auftragsarbeiten so erledigen können, wie es ihnen in den Sinn kommt und ihr zahlungskräftiger Auftraggeber es haben will?

Auf der anderen Seite liegen die aufgeregten Anwälte der Meinungsfreiheit mit ihrer lächerlichen Prinzipienreiterei allerdings ganz richtig: Die idealisierende Beschwörung eines demokratischen Verfassungsgrundsatzes schärft die Konturen des Feindbilds vom islamisch inspirierten Terrorismus, gegen den der freie „Westen“ missionarisch vorgehen muss. Der zurechtkonstruierte Grundsatzstreit spiegelt gerade in seiner Übertriebenheit die grundsätzliche Feindschaft wider, die die verbündeten Weltordnungsmächte anti-westlichen Widerstandsnestern in der islamischen Weltregion angesagt haben und in die sie die dortige Herrschaftsordnung und die (un)sittliche Verfassung der dortigen Gesellschaften einbeziehen. Zumindest eine Kampagne lang, mindestens so lange wie der politisch-moralische Wutausbruch in der muslimischen Welt andauert, dient der Fetisch der Pressefreiheit als denkbar passendes ideologisches Banner für das „Kreuzzugs“-Ethos der imperialistischen Aufräumaktion, die die USA und deren willige wie weniger willige Helfer sich für die Gegend vorgenommen und auf die weltpolitische Tagesordnung gesetzt haben.

4.

Die Militanz, mit der speziell Europas politische Rechte den muslimischen Völkern ideell die Meinungsfreiheit als den höchsten Wert um die Ohren haut, durch dessen Missachtung sie sich als das erweisen, was die Karikaturen ihnen nachsagen, nämlich als ein einziger großer Sumpf terroristischer Gewalttätigkeit: Diese selbstgerechte Offensive der Fans einer freien Presse provoziert im eigenen Land Einwände. Konservative, die sich auch in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass ihnen Karikaturen vom „Balkensepp“ selber total gegen den Strich gehen und ein strafrechtliches Vorgehen gegen die „Verletzung religiöser Gefühle“ durch Verunglimpfung von Glaubenssymbolen eigentlich durchaus geboten erscheint, frischen ihre alte Weisheit auf, dass Freiheit nur zutiefst verantwortungsbewusst wahrgenommen werden darf und speziell die Freiheit der Meinungsäußerung in Respekt vor den Empfindlichkeiten anderer ausgeübt werden sollte – nicht ohne zu beteuern, selbstverständlich ginge auch ihnen die Freiheit von Verlegern, jeden Scheiß drucken zu lassen, über alles; schließlich will man sich nicht gleich in die Ecke der im arabischen Mittelalter hängen gebliebenen Freiheitsfeinde abschieben lassen. Kritischere Freigeister erinnern sich umgekehrt daran, dass sie selber oder ihresgleichen schon mal schmerzhaft mit den Grenzen der Meinungsfreiheit Bekanntschaft gemacht haben, die ihr liberaler Rechtsstaat nicht zuletzt dort zieht, wo es um die heiligen Güter der etablierten Volksreligionen des christlichen Abendlandes geht; sie erinnern die Verächter des islamischen Protests an die auch nicht immer gewaltfreien Auftritte christlicher und jüdischer Fundamentalisten in den Heimatländern der Meinungsfreiheit und plädieren dafür, „der Westen“ sollte sich mit seinem angeblichen Höchstwert mal nicht zu sehr aus dem Fenster lehnen, sondern vor der eigenen Türe kehren. Sie machen so immerhin auf die Heuchelei aufmerksam, die in der Begeisterung am Werk ist, mit der die moralischen Richter aus dem christlichen Abendland über die rückständigen Randalierer aus dem muslimischen Morgenland herfallen. In der Sache freilich: dass es sich bei der Meinungsfreiheit um eine großartige Errungenschaft handelt, die allenfalls noch nicht uneingeschränkt genug durchgesetzt sei, geben sie den zu großer Form aufgelaufenen Heuchlern Recht; und dazu gibt es dann doch ein paar kritische Anmerkungen zu machen.

Kleiner Exkurs zu einem unter den Top Ten der abendländischen Höchstwerte

a)

Wie jede Freiheit, so hat auch die, eine Meinung haben und äußern zu dürfen, zwei Seiten.

  • Was das Subjekt betrifft, das an dieser Freiheit seine Freude haben soll, so handelt es sich in der Tat um einen „Wert“ der höheren Art: ein Gut, nach dem kein Mensch einfach von sich aus ein Bedürfnis verspürt. Wer etwas meint und das auch äußern will, der will das tun und nicht dürfen: Der fällt ein Urteil, das er für richtig hält und für wichtig genug, um es andere wissen zu lassen; oder er meldet ein Interesse an, an dessen Realisierung ihm liegt und für das er Unterstützung will. Die Äußerung zielt auf Einverständnis in der Sache, auf Billigung des vorgebrachten praktischen oder theoretischen Anliegens oder auf eine verständige Zurückweisung, die Stoff für eine Auseinandersetzung liefert – und jedenfalls nicht auf den faden Genuss, den Mund aufgemacht zu haben und daran nicht gehindert worden zu sein. So eine Zwecksetzung kommt nur auf, wenn schon die bloße Meinungsäußerung verboten ist und mit Gewalt unterbunden wird; und nicht einmal da versteht sie sich von selbst. Es ist nämlich eine Sache, ein solches Verbot zu kritisieren, gegen die verbietende Gewalt, mit der man sich konfrontiert sieht, einen kleinen oder größeren Aufstand zu organisieren, also für die Einsicht bzw. das Interesse einzustehen, die da schon im Vorfeld, bevor sie sich überhaupt artikulieren, niedergebügelt werden sollen – und es ist eine ganz andere Sache, auf einem Recht auf die eigene Meinung zu beharren und um die Lizenz zu ihrer Darlegung nachzusuchen. Im letzteren Fall wird stillschweigend vorausgesetzt, dass eine höhere Instanz, eine allgemein herrschende Ordnungsmacht, einem ein Recht verschafft bzw. eine Freiheit gewährt. Da wird nichts kritisiert, schon gar nicht das mit Gewalt ausgestattete Interesse, eine Meinung noch nicht einmal anhören zu wollen; vielmehr wird ein Antrag gestellt, der die Anerkennung einer gewährenden und schützenden Aufsichtsinstanz einschließt, also über das klassische untertänige Sire, geben Sie Gedankenfreiheit! nicht hinausgeht; und wenn einem solchen Antrag stattgegeben wird, dann ist damit gegen das Interesse, das dem eigenen entgegensteht, und gegen das Urteil, das sich mit dem eigenen gar nicht auseinandersetzen will, noch gar nichts erreicht. Dafür ist unter der Hand etwas anderes passiert: Mit der Meinung, die man unbedingt frei äußern möchte, ist man ein Unterwerfungsverhältnis, eben zu einem übergeordneten Lizenzgeber und Freiheits-Gewährer, eingegangen, das man in dem allenfalls anschließenden Meinungsstreit, der Auseinandersetzung um Einsichten oder Ansprüche, nicht mehr los wird.
  • Denn das ist die andere Seite dieser – wie jeder – Freiheit: Auf die Meinungsäußerungen all derer, die eine Meinung zu äußern haben, wird aufgepasst; von einer Instanz, die alle Gewalt, auch die, mit der die Leute einander am Meinungsäußern hindern könnten, an sich zieht und sich vorbehält. Manche Meinungsäußerungen wertet nämlich diese höhere Instanz, selbstverständlich nach ihrem Ermessen, als verbalen Übergriff, verbietet sie und stellt Zuwiderhandlung unter Strafe. Viel grundsätzlicher allerdings interveniert sie in sämtliche Verstandes- und Willensäußerungen der beaufsichtigten Subjekte, indem sie die grundsätzliche Freiheit gewährt, sich zu äußern, im Prinzip alles Geäußerte gleichermaßen gelten lässt, auch ihren freien Subjekten aufgibt, allen Meinungsäußerungen mit gleichem Respekt zu begegnen, und das als die Erfüllung aller theoretischen wie praktischen Mitteilungswünsche ihrer Leute verstanden und gewürdigt haben will: Damit dekretiert sie tatsächlich die prinzipielle Gleichgültigkeit aller vorgetragenen Urteile und Interessen, verurteilt ihren Inhalt zur Irrelevanz und die Leute dazu, sich mit der Wahrnehmung ihrer Lizenz zum Meinen zufrieden zu geben, so als wäre es ihnen auf die gemeinte Sache gar nicht angekommen. Dabei geht es der Aufsicht führenden Instanz selbstredend nicht um ohnehin belanglose Ansichten, mit denen die Menschen einander unterhalten, und auch nur in dritter Linie um Karikaturen und andere Boshaftigkeiten, mit denen sie einander ärgern. Die prinzipielle Relativierung alles Gemeinten und Gewollten, die gleiche Gültigkeit und damit Ungültigkeit aller Meinungen, die im Recht auf deren freie Äußerung enthalten ist, zielt auf praktische Interessen, nämlich auf die Interessensgegensätze, die die bürgerliche Gesellschaft beherrschen. Allen gesellschaftlichen Ansprüchen wird ein formelles Daseinsrecht zuerkannt und zugleich als Preis dafür die Anerkennung ihrer Unverbindlichkeit, also eine Selbst-Relativierung abverlangt, die den tatsächlich stattfindenden Interessens-„Ausgleich“, die Vereinnahmung der Subjekte in einen produktiven gesellschaftlichen Zusammenhang, einer Macht außerhalb und jenseits des Konsenses überlässt, der durch Streit über die und Einigung in der Sache zu erzielen wäre und auf den eine Meinungsäußerung, die ihren Inhalt ernst nimmt, im Grunde auch allemal zielt: der höchsten Gewalt, die in diesem System alle Lizenzen vergibt. Mit dem Grundsatz der allgemeinen Meinungsfreiheit verschafft die Staatsmacht, die ihren Bürgern dieses hohe Gut gewährt, sich ihre grundsätzliche Entscheidungsfreiheit über deren wirkliches gesellschaftliches Zusammenwirken jenseits von jedem Kon- oder Dissens, den die zustandebringen.

b)

Die schlagartig so begeisterten Anwälte der abendländischen Meinungsfreiheit haben also irgendwie recht, wenn sie diese Errungenschaft zum unterscheidenden Kennzeichen der Demokratie im Vergleich der Herrschaftssysteme erklären; allerdings etwas anders, als sie es meinen. Mal abgesehen davon, dass sie noch nicht einmal die einfachsten Unterscheidungen beherrschen, sondern das mit dem Eigentum verbundene Recht eines Zeitungsbesitzers auf auftragsgemäße Produktgestaltung, die daraus abgeleiteten Befugnisse eines Chefredakteurs, das Menschenrecht des zahlenden Publikums auf ausgiebiges ‚Infotainment‘, die Freiheit freischaffender Karikaturisten auf brüllkomische Selbstverwirklichung und einen vornehmen Grundgesetzartikel für ein und dasselbe halten: Die Freiheit der Meinungsäußerung, als Verfassungsgrundsatz ernst genommen, gehört tatsächlich mit zu dem eigentümlichen Verhältnis beschränkender Anerkennung, in dem die moderne bürgerliche Staatsgewalt zu ihren Bürgern steht. Sie konzediert denen ein Recht auf ihr Interesse, erlegt ihnen damit zugleich dessen Relativierung und den Verzicht auf konkrete, sachliche Vermittlung ihrer individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten auf, mutet ihnen zu, die Regelung ihrer gesellschaftlichen Beziehungen der höchsten Gewalt zu überlassen, die mit der allgemeinen Freiheit auch deren materielle Bedingungen in Kraft setzt; sie gewährt den Subjekten Anerkennung unter prinzipieller Abstraktion von allem, was sie brauchen, wollen und vermögen, und emanzipiert sich damit von deren materiellen Interessen. In diesem Verhältnis abstrakter Freiheit ist das Recht auf freies Meinen und Sich-Äußern gratis mit enthalten – einschließlich der Maßregel, dass es auf den Inhalt nicht weiter ankommt und der Mensch sich schon damit gut bedient findet, sich überhaupt ungehindert geistig auskotzen zu dürfen. Das mag in der Tat ein historischer Fortschritt sein gegenüber Herrschaftsverhältnissen, in denen eine auf Herkunft und religiöse Vorschriften gegründete Autorität jedem seinen gesellschaftlichen Stellenwert zuweist und die Anerkennung des Einzelnen davon abhängt, dass er seinerseits die herrschende Gewalt gläubig als göttlichen Willen anerkennt. Darüber sollte man aber doch nicht ganz die äußerst begrenzte Reichweite dieses Fortschritts vergessen: Es handelt sich um den Übergang zu einer modernen, überlegenen Art von Herrschaft.

c)

Wie wenig dieser Fortschritt mit einem Sieg der Vernunft über die Befangenheit von Verstand und Wille im Glauben an einen jenseitigen Herrn zu tun hat, das demonstriert die freiheitlich verfasste Staatsmacht ganz ausdrücklich da, wo sie sich dem Reich der sonn- und feiertäglichen Besinnlichkeit zuwendet und Freiheit der Religionsausübung gebietet. Von politisch erwünschter Kritik des moralisch befangenen Fürwahrhaltens, geschweige denn von einer Überwindung des „Bewusstseins schlechthinniger Abhängigkeit“ kann da wirklich nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Im Reich der bürgerlichen Aufklärung hat der fromme Irrationalismus seinen festen Platz. Freilich dann doch nicht den, auf dem die Religion mitsamt ihren professionellen Vertretern in den alten Zeiten des christlichen Abendlands zu Hause war und in manchen morgenländischen Gemeinwesen noch heute steht: Den Rang einer verbindlichen Dienstanweisung für jedermann, nicht einmal nur für die Regierten, sondern auch und sogar für die Regierenden, haben Glaube und kirchliche Sitte in den demokratischen Nationen nicht. Da geht es der Religion wie den gesellschaftlich relevanten Interessen und den Meinungen der Bürger überhaupt: Sie darf geglaubt und privat praktiziert werden; nach seinem eigenen, gesetzlich kodifizierten und je nach Regierungslinie modifizierten Ermessen gesteht der Staat ihr sogar ein Stück öffentliche Anerkennung, Einfluss und Mitwirkung im nationalen Erziehungs- und Sozialwesen zu – den allgemeinen Nutzen einer Gesinnung des absolut geschuldeten Gehorsams, der Anerkennung einer höheren Verfügungsmacht über das eigene Dasein, weiß eine bürgerlich-demokratische Obrigkeit ebenso zu schätzen wie die preiswerten Extra-Dienste, mit denen die kirchliche Caritas die staatliche Sozialpolitik entlastet. Einen Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit jedoch darf ein Glaube nicht erheben. Er muss sich vielmehr mit der gleichen Gültigkeit konkurrierender Bekenntnisse, sogar des Bekenntnisses zur Gottlosigkeit – dies die einzige Form, in der der moderne Rechtsstaat die Kritik der Religion als sozialverträglichen Beitrag zum Geistesleben des Gemeinwesens anerkennt – abfinden, also die Gleichgültigkeit seiner Imperative für die weltliche Macht nicht nur hinnehmen, sondern billigen. Mit dieser Selbst-Relativierung verdient sich eine Religion, egal ob christlich, islamisch, oder welchem Allerhöchsten auch immer sie sich verpflichtet, das Attribut ‚bürgerlich‘, obwohl das gar keine Glaubensrichtung in dem Sinn ist, nämlich die Wertschätzung der irdischen höchsten Gewalten: Der demokratische Rechtsstaat scheidet zwischen dem unbedingten Geltungsanspruch des Glaubens an eine jenseitige absolute Autorität – den lässt er nur als ideellen gelten und negiert ihn, soweit er darin eine Konkurrenz zu seiner eigenen Souveränität erkennt – und der herrschaftsdienlichen Funktion einer „religiösen Bindung“ – die gefällt ihm so gut, dass er angepassten Glaubensgemeinschaften manche Förderung zuteil werden lässt; seine Repräsentanten schmücken sich auch gerne mit geistlichem Zuspruch und bauen ‚Gott‘ in ihre Amtseidesformel ein. So weit geht er aber nicht, seinen Bürgern Frömmigkeit vorzuschreiben: Deren Wille hat zu funktionieren, ganz gleich, ob und welche höheren Beweggründe sie sich für ihren staatsbürgerlichen Gehorsam und ihre Gesetzestreue einbilden.

*

Auf diese Unterscheidung zwischen gleichgültigem, rechtlich und politisch unverbindlichem Inhalt und zwar nicht unentbehrlicher, aber höchst schätzenswerter Funktion des Glaubens läuft auch der polemische „Systemvergleich“ zwischen der unvergleichlich menschenwürdigen „Herrschaft des Rechts“, i.e. dem Monopol der bürgerlichen Staatsgewalt auf praktische Unterordnung ihrer Bürger, und den „mittelalterlichen“ politischen Verhältnissen in etlichen arabisch-islamischen Staaten hinaus, auf den die Ritter der Meinungsfreiheit es mit ihrer Hetze gegen randalierende Moslem-Fundis anlegen. Niemand will so ohne Weiteres etwas gegen den Islam als solchen gesagt haben, „nur“ gegen die Leute, die ihn so humorlos ernst nehmen, bzw. gegen die Art und Weise, wie in gewissen Ländern die Lehre des Propheten ausgelegt und beherzigt wird. Auch der Koran ließe sich nämlich, verantwortungsbewusst interpretiert, im Sinne einer bürgerlichen Religion verstehen, die als oberste sittliche Maxime den unbedingten Respekt vor der säkularen Staatsgewalt vorschreibt und mit ihren sonstigen Verheißungen und Anweisungen dem Gläubigen dabei hilft, sich privat mit seinen gesetzlich vorgegebenen Lebensverhältnissen abzufinden. Das ist sogar, nach neuesten Erkenntnissen demokratischer Mohammed-Exegeten, der einzig wahre Sinn seiner Offenbarungen. Die empörten Massen im afro-asiatischen Muslim-Gürtel liegen demnach auch rein glaubensmäßig voll daneben, wenn sie ihre Privatmeinung, Allah und seinen Propheten betreffend, wichtiger nehmen als die Grundsätze einer anständigen rechtsstaatlichen Herrschaft und per Einschüchterung redlicher Karikaturisten die Reichweite der abendländischen Pressefreiheit beschränken wollen, wo doch nur der zuständige Gesetzgeber und der gesetzliche Richter in dieses Heiligtum beschränkend eingreifen dürfen. Von denen nämlich, aber auch nur von denen und im Namen seiner eigenen recht verstandenen Freiheit lässt der aufgeklärte Abendländer sich Einschränkungen seiner Meinungsfreiheit, sogar in Sachen Religion zwecks Schonung tiefer und schöner Gefühle, gefallen, die er sich im Namen Allahs und von Autoritäten ohne demokratische und von befugten Instanzen als demokratisch anerkannte Legitimation nie und nimmer bieten lässt. Die wollen ihn nämlich im Grunde nur terrorisieren; da erwächst aus falsch verstandener Frömmigkeit ein böser Wille, der sich die Vernichtung unserer schönen Freiheit zum Ziel setzt. Und wer weiß, womöglich liegt das böswillige, freiheitsfeindliche Religionsverständnis so vieler Muslime ja doch, wenigstens ein bisschen, am böswillig interpretierten Islam selber… Europas Feuilletons bleiben in der Frage am Ball.

5.

Es ist fast wie in alten antikommunistischen Zeiten: Der „Systemvergleich“, der nichts vergleicht, sondern Verfahrensweisen bürgerlich-demokratischer Herrschaft in ihrer idealisierten Fassung zur absoluten Norm erhebt, vor der sich die Herrschaftspraxis in einem angefeindeten Staat als Abgrund an Bosheit blamiert – dieser offensiv selbstgerechte Blick auf die Welt bewährt sich mal wieder als Produktivkraft für ein Feindbild, das den Ideologien des Gegners an moralischem Fundamentalismus nicht nachsteht. Er taucht die angesagte Feindschaft in das idealisierende Licht einer Mission gegen die Unfreiheit, so als wäre die Unvereinbarkeit der „Systeme“ deren Grund.

Unvereinbar ist da tatsächlich manches. Das bürgerliche Herrschaftsprinzip der abstrakten Freiheit, die diejenige der Meinungsäußerung einschließt, ist unverträglich mit einer gesellschaftlichen Ordnung, die ihren Mitgliedern kraft religiöser Autorität ihren Platz in einer überkommenen Hierarchie von Befehlsgewalt und Dienst zuweist; und die Bilder, die sich beide Seiten von der Welt und von einander machen, harmonieren schon gleich nicht. Der Grund des aktuellen Konflikts zwischen Europas Demokratien und den islamischen Gemeinwesen, den die dänischen Karikaturen ausgelöst haben, liegt aber wirklich nicht in divergierenden gesellschaftlichen Sitten und politischen Kulturen: Der liegt in der Feindschaft, die die Mächte mit der selbsterteilten Lizenz zum Weltordnen dem Störpotential angesagt haben, das ihnen im Verlauf ihres jahrzehntelangen oberhoheitlichen und ausbeuterischen Zugriffs auf die Region zwischen Marokko und Indonesien dort erwachsen ist, und in der komplementären Gegnerschaft von dortigen Regierungen, die nach Eigenständigkeit und respektabler Gegenmacht gegen die „westliche“ Übermacht streben, bzw. vor allem von Oppositionellen, die aus einer Position der Ohnmacht heraus mit dem Mittel des Terrors für eine solche Gegenmacht kämpfen und damit so viel Resonanz finden, dass die zuständigen Machthaber, selber nicht zufrieden mit ihrem Stellenwert in der „westlich“ dominierten Staatenwelt, vor diesem Aufbegehren Respekt haben. Weil sie andererseits ihre Grenzen kennen und weil auch Europas Staatsmänner mit den Feindschaften, die in ihrem Weltordnungsstandpunkt angelegt sind, berechnend umgehen, folgt der allseitigen Empörung allseits ein halber Rückruf von oben:

  • Die Regierenden in der Region, in unterschiedlichem Maß mit dem Korrekturbedarf der imperialistischen Welt-Neuordner konfrontiert, haben in entsprechend unterschiedlichem Maß ein Interesse daran, gegen ihre imperialistische Bevormundung „ein Zeichen zu setzen“ und auf Respekt zu pochen sowie das eigene Volk gegen Anfeindungen von außen und für die Religion demonstrieren zu lassen, die ihnen dessen Loyalität sichert. Eine ausufernde Aufregung können sie allerdings auch nicht gebrauchen. Bevor die Empörung ihrer Massen das amtliche Bedürfnis nach nationaler Abgrenzung gegen „den Westen“ überschreitet oder womöglich ihre zumeist gar nicht anti-westliche Politik ins Visier nimmt, wird zur Mäßigung aufgerufen und erforderlichenfalls auch so scharf geschossen, wie die zynischen Anwälte der Freiheit und Gewaltlosigkeit es lautstark bei Regierungen vermissen und von Potentaten einfordern, die doch sonst kein Aufmucken erlauben und Demonstrationen auseinanderknüppeln lassen.
  • In den europäischen Ländern ermahnen die Verantwortlichen, in verteilten Rollen oder auch in Personalunion, einander zu grenzüberschreitender Solidarität der Demokraten, die vor angezündeten Fahnen und erst recht vor unzulässigen Boykottaufrufen nicht zurückweichen dürfen, und gleichzeitig ihre Öffentlichkeit zu einem verantwortungsvollen Gebrauch des hohen Guts der Meinungs- und Pressefreiheit und zur Rücksichtnahme auf religiöse Gefühle. Über nützlichen Irrationalismus wird nicht gelacht; unter der Bedingung, dass, und soweit, wie die selbstbewusste Unmündigkeit der Kinder Allahs zu treuer Anerkennung der weltlichen Herrschaft animiert, verdient auch der Islam ein Mindestmaß an Ehrerbietung und Kontrolle nur, damit er auch wirklich korrekt, als bürgerliche Privatreligion, funktioniert: Den Diskussionsbeitrag sind die Regierenden sich schuldig, schon aus Sorge um den inneren Frieden in ihren Ländern, und damit die moralische Empörung ihrer muslimischen Minderheiten nicht in Unberechenbarkeit umschlägt. Den Kollegen in der nah- und mittelöstlichen „Krisenregion“ übermitteln sie so das „starke Signal“, dass Europa das Ziel der Integration ihrer Länder in eine neue, demokratisch optimierte Weltordnung mit Nachdruck weiter verfolgt, dabei aber zu unterscheiden weiß zwischen gemäßigten Regierungen, die mäßigend auf ihre Massen einwirken und sich damit Wohlwollen verdienen, und den Radikalen, gegen die man den Schulterschluss mit Amerika wie in alten Zeiten sucht und übt. In diesem Sinn fordern amtierende Demokraten einen „Dialog der Kulturen“ – als würde der nicht gerade geführt; in genau der Sprache, auf die Gewaltmonopolisten und deren Ideologen sich verstehen.

In der Folge lassen auch die Missionare der Meinungsfreiheit, die sich schon fast als Martyrer vorgekommen sind, wieder locker. Gemäß dem dramaturgischen Motto: Nach dem Irrsinn die Farce! verlagern sie ihren Kampfeinsatz kurzfristig ans Frankfurter Schauspielhaus, wo ein Akteur in Wahrnehmung der Freiheit der Kunst einem FAZ-Kritiker die Freiheit der Presse in Gestalt eines Notizblocks entreißt und ein Streit um die Entlassung des Mimen entbrennt, in dem beide Seiten sich auf den gerade tobenden großen Weltanschauungskampf ums freie Meinen beziehen, ohne zu merken, welches Zeugnis sie damit der großen öffentlichen Aufregung über freiheitsfeindliche muslimische Demonstranten ausstellen. Vom „Kampf der Kulturen“ zwischen Abendland und Orient bleibt allerdings mehr als ein bisschen aufgeblasene Gekränktheit. Nämlich die Feindschaft der imperialistischen Ordnungsmächte gegen Abweichler in der „3. Welt“; der ohnmächtige Hass vieler Betroffener dort; ein lebendiges Feindbild von „denen da unten“; und die Überzeugung, dass es höchste Zeit ist, eine ganze Weltgegend „zur Räson zu bringen“.